Ein kleiner Anteil der Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion verstirbt an einem akuten Lungenversagen (ARDS), meistens in Folge einer schweren Form der Lungenentzündung. Eine kürzlich publizierte Arbeit (siehe Journal of Medical Virology, Online-Vorabveröffentlichung am 27.2.2020) beschreibt jedoch einen weiteren möglichen, bislang wenig erforschten Pathomechanismus des tödlichen Lungenversagens. Demnach könnte eine Beteiligung des Hirnstamms und somit des Atemzentrums eine Rolle spielen. Unbekannt ist, wie häufig das der Fall ist. Eine aktuelle Arbeit (siehe Science, Online-Vorabveröffentlichung am 16.3.2020) gibt immerhin Anlass zur Hoffnung, dass schwere Verläufe grundsätzlich seltener als angenommen sind.
„Es gibt zahlreiche, z.T. auch schon ältere Arbeiten, die zeigen, dass Coronaviren in das zentrale Nervensystem (ZNS) bzw. das Gehirn eindringen können, insbesondere in den Hirnstamm. Dort befinden sich wichtige Steuerzentralen von Vitalfunktionen wie das Atemzentrum. Eine durch Viren ausgelöste Dysfunktion könnte einen Atemstillstand begünstigen, auch ohne Lungenentzündung“, erläutert Prof. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN).
Das neuroinvasive Potenzial der Viren könnte übrigens auch erklären, warum bei COVID-19-Erkrankungen neben den typischen Krankheitszeichen Fieber, Halsschmerzen und Husten manchmal auch neurologische Symptome wie der Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit, Erbrechen und Bewusstseinsstörungen auftreten.
Bereits 2002/2003 beim SARS-CoV-1-Ausbruch wurde das neuroinvasive Potenzial der Erkrankung beschrieben: Die Coronaviren fand man dabei nur in Gehirnzellen, nicht in den benachbarten Blut- oder Lymphbahnen, was für einen Infektionsweg über die Nervenzellen (Neuronen) und nicht über Blut- oder Lymphgefäße spricht. Tierexperimentell konnte der neurale Infektionsweg bereits nachgewiesen werden, er verläuft von der Nasenschleimhaut über sogenannte freie Nervenendigungen bis zum Gehirn. Die Viren werden dabei von Neuron zu Neuron über die Synapsen weitergegeben (über den Transportweg der Endo-/Exozytose).
In dem aktuellen Review wurde darüber hinaus hervorgehoben, dass Tiere, die mit MERS-CoV infiziert waren - also einer anderen Untergruppe der Coronaviren, die 2012 entdeckt worden war - z.T. verstarben, ohne überhaupt Atemwegssymptome entwickelt zu haben; die Viren fanden sich bei diesen Tieren nur im Gehirn (zerebral), nicht aber in der Lunge. Interessant ist, dass die Viren in die Neuronen anscheinend nicht über denselben Zelloberflächenrezeptor gelangen wie in Lungenzellen, da dieser Rezeptor im Gehirn kaum vorhanden ist. Auch in der aktuellen SARS-CoV-2-Pandemie wird vielfach berichtet, dass einzelne Patienten schwer erkranken, sogar versterben, ohne zuvor respiratorische Symptome entwickelt zu haben. „Aus neurologischer Sicht ist es wichtig, abzuklären, wie groß die Rolle der Hirnstammbeteiligung bei COVID-19-Patienten tatsächlich ist, also wie viele der schweren Krankheitsverläufe auf das Konto des neuralen Pathomechanismus gehen. Wir hoffen, dass die großen internationalen COVID-19-Register zeitnah Daten dazu liefern “, betont Prof. Berlit.
Besonders wichtig seien die Registerdaten auch, um die tatsächliche Rate von schweren Covid-19-Verläufen generell beziffern zu können. Eine Studie zur Schätzung der Dunkelziffer wurde kürzlich in publiziert (siehe Science, Online-Vorabveröffentlichung am 16.3.2020). Chinesische Wissenschaftler erstellten ein epidemiologisches Rechenmodell, in welches Beobachtungen über re-importierte SARS-CoV-2-Infektionen unter anderem in Verbindung mit Mobilitätsdaten der Bevölkerung einbezogen wurden. Auf diese Weise wurde berechnet, dass in China bis zum 23. Januar 2020 (vor den Reisebeschränkungen) 86 % aller Infektionen undokumentiert waren, möglicherweise auch, weil die Betroffenen keine oder nur milde Symptome hatten. „Eine solche Dunkelziffer würde erklären, wie sich das Virus in diesem Tempo um die ganze Welt ausbreiten konnte“, kommentiert Prof. Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der DGN. „Sie gibt aber auch Hoffnung: Wenn diese Berechnungen stimmen, wären schwere Verläufe deutlich seltener als bislang angenommen.“
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.