Für Patienteninnen und Patienten mit akutem Lungenversagen (Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS) ist die künstliche Beatmung lebensrettend. Doch die Situation ist paradox: Während Mediziner versuchen, mit Druck die Lunge offen zu halten und den Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid weiter zu ermöglichen, kann der Druck Teile der Lunge auch so stark schädigen, dass dies tödliche Folgen hat.
„Die Krux dabei ist“, erklärt Wolfgang Wall, Professor für Numerische Mechanik an der TU München, „dass die Behandelnden bisher keine Möglichkeit hatten, eine Überdehnung zu erkennen. Von der Luftröhre bis in die feinsten Verästelungen besitzt die Lunge mehr als 20 Stufen der Verzweigung, und es gibt keine Messmethode um festzustellen, was auf der Mikroebene der Lunge während der Beatmung passiert.“
Die Lunge ist im Bereich der Lungenbläschen, die in vielen Fachbüchern noch immer fälschlicherweise wie Weinreben dargestellt werden, in Wahrheit ein schwammartiges Gewebe über dessen feinste Wände der Gasaustausch zwischen der Luft und dem Blut erfolgt. Die mechanischen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Gewebearten, der strömenden Luft und dem Flüssigkeitsfilm auf dem Gewebe sind extrem komplex.
Die Arbeitsgruppe von Prof. Wall an der TU München hat nun mit immer weiter verfeinerten Simulationsmodellen für das Verhalten von Gewebe und Luftstrom sowie mikromechanischen Versuchen an realen Gewebeproben ein digitales Lungenmodells entwickelt. Ausgehend von den Daten eines Computer-Tomogramms des Brustkorbs und der Analyse eines Atemzuges zeigt es dem Behandelnden, welche Einstellungen des Beatmungsgeräts zu welchen Belastungen auf der Mikroebene der Lunge führen. Entsprechend lassen sich die Einstellungen dann anpassen.
Klinischer Standard ist es, die Einstellungen für die Beatmung anhand einer vom Körpergewicht ausgehenden Faustformel zu berechnen. Aus den Daten eines Computer-Tomogramms errechnet das Computermodell tatsächliche Lungenvolumen (siehe Journal of Applied Physiology 2017, Band 122, Seite: 855-867 und International Journal for Numerical Methods in Biomedical Engineering 2017, Band 33, Seite: e02787). Das digitale Modell erkennt dabei sogar den Zustand einzelner Lungenbereiche, die durch die Erkrankung bereits geschädigt sind.
Aus der Druck- und Volumenänderung während eines Atemzuges errechnet der Computer Werte für die mechanischen Eigenschaften der Lunge des Patienten. Damit erzeugt das Modell einen digitalen Zwilling der Patientenlunge. Er ist so präzise, dass das Programm voraussagen kann, welche Einstellungen zu Schäden führen würden.
Parallel zur weiteren Forschung mit klinischen Partnern gründete Prof. Wall zusammen mit drei ehemaligen Mitarbeitern das Unternehmen „Ebenbuild“, um die Forschungsergebnisse schnellstmöglich in die klinische Praxis zu bringen. Ein wesentlicher Schritt dabei war die automatische Modellerstellung mittels künstlicher Intelligenz. Auf dieser Basis wurde inzwischen auch ein Werkzeug zur Charakterisierung der Lunge entwickelt, das auch zur frühen Erkennung von Covid-19 eingesetzt werden kann.
„Über 80 Prozent der Todesfälle infolge von Covid-19 sind auf akutes Lungenversagen zurückzuführen. Bei längerfristiger künstlicher Beatmung von Patienten sinkt die Überlebensrate derzeit (Stand Ende April) auf etwa 50 Prozent“, berichtet Prof. Wall. „Ziel unserer Arbeiten ist es, dass in Zukunft an jedem Beatmungsplatz ein digitales Lungenmodell bei der optimalen Einstellung der Beatmung hilft und wir so die Überlebenschance deutlich erhöhen können.“
Quelle: Technische Universität München