Bei schweren Krankheitsverläufen von Covid-19 werden starke Veränderungen der Gefäßarchitektur, zahlreiche Entzündungen, Thromben und so genannte hyaline Membranen beobachtet, die sich durch Ausscheidung von Protein- und Zellresten auf die Wände der Lungenbläschen (Alveolarwände) legen und den Gasaustausch erheblich erschweren. Röntgenphysiker der Universität Göttingen haben zusammen mit Pathologen und Lungenspezialisten der Medizinischen Hochschule Hannover ein neues Bildgebungsverfahren entwickelt, mit dem geschädigtes Lungengewebe nach Erkrankung an Covid-19 hochaufgelöst und dreidimensional dargestellt werden kann (siehe elife, Online-Veröffentlichung am 20.8.2020). Dabei wird eine besondere Röntgenmikroskopietechnik genutzt, um die durch das Virus hervorgerufenen Veränderungen der Lungenbläschen (Alveolen), und der Blutgefäße darzustellen.
Mit diesem neuen, zerstörungsfreien Verfahren lassen sich solche Schäden erstmals großräumig und dreidimensional darstellen, ohne das Gewebe durch Schnitte und Färbung zu verändern. Das Verfahren eignet sich damit besonders zur Darstellung der Verästelung kleinster Gefäße, zur Bestimmung der räumlichen Verteilung von Immunzellen im Gewebe und zur Messung der Trennschichten zwischen Blutzellen und den Luftbläschen, etwa für die Simulation des Gasaustausches.
„Die in Wachs eingebetteten Lungengewebeproben konnten vor einer Detail-Untersuchung auch großräumig durchstrahlt werden, um besonders interessante Bereiche um Entzündungen, Blutgefäße oder Bronchien herum zu lokalisieren“, berichtet der leitende Autor Prof. Dr. Tim Salditt von Institut für Röntgenphysik der Universität Göttingen. Da die Röntgenstrahlung tief genug eindringt, kann die Brücke von der makroskopischen zur mikroskopischen Struktur geschlagen werden. Die räumliche Anordnung von Blutgefäßen bis hinunter zu den kleinsten Kapillaren kann damit für die Pathologen sichtbar gemacht werden.
Die Autoren sprechen von einer virtuellen dreidimensionalen Histologie. Die Histologie als die Lehre des Aufbaus von Geweben und die Histopathologie als Lehre der krankheitsbedingten Veränderungen entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Mikroskopie rasante Fortschritte gemacht hatte. Noch heute nutzt man in der Pathologie die damals entwickelten Grundtechniken der Gewebefixierung, der Anfertigung von Dünnschnitt-Präparaten, die Anfärbungen und schließlich die Betrachtung im Mikroskop. Die klassische Technik ist aber nicht mehr ausreichend, wenn man vollständige dreidimensionale Darstellungen braucht, die man mit Computer-Programmen durchforsten und analysieren will.
Dreidimensionale Bildgebung kennt man aus der herkömmlichen Computer-Tomographie (CT). Bei der Phasenkontrast-Methode entsteht das Bild aber nicht wie bei der klassischen CT durch unterschiedliche Abschwächung der Röntgenstrahlung im Gewebe, sondern durch winzige Laufzeitunterschiede der Röntgenwelle und den daraus resultierenden Verschiebungen der Wellenfront. Durch Ausbreitung der Röntgenwelle zwischen Probe und Detektor entsteht ein wellenartiges Muster, aus dem dann allerdings erst noch ein scharfes Bild errechnet werden muss. Salditt und seine Arbeitsgruppe haben nun speziellen Algorithmen und Beleuchtungsoptiken entwickelt, mit denen sich die Gewebestruktur scharf und dreidimensional darstellen lässt. Dabei kann die Vergrößerung stufenlos eingestellt werden und auch Millimeter oder Zentimeter-große Gewebeproben können ohne Schnitte oder Anfärbung dargestellt werden. Je nach Einstellung, können damit auch Strukturen sichtbar gemacht werden, die mit herkömmlicher Lichtmikroskopie nicht mehr aufgelöst werden können. Um dies zu erreichen, nutzt das Göttinger Team hochbrillante Röntgenstrahlung, welche am Speicherring PETRAIII des Deutschen Elektronen-synchrotrons (DESY) in Hamburg erzeugt wird.
Wie schon von 150 Jahren nach Erfindung des modernen Mikroskops ergibt sich ein wesentlicher Fortschritt aus der Verbindung physikalischer und medizinischer Forschung. Das interdisziplinäre Forschungsteam hofft, dass mit der neuen Methode die Entwicklung von Behandlungsmethoden und Wirkstoffen unterstützt werden kann, um schwere Lungenschäden bei Covid-19 zu verhindern, zu lindern oder deren Regeneration zu fördern. „Erst wenn man sieht, was passiert, kann man Mittel und Eingriff zielgerichtet entwickeln“, so Prof. Dr. Danny Jonigk von der Medizinischen Hochschule Hannover, der den medizinischen Teil der Studie geleitet hat.
Quelle: Georg-August-Universität Göttingen