Von einer Immuntoleranz spricht man, wenn bestimmte Immunzellen - so genannte regulatorische T-Zellen - die Aktivität der tumorbekämpfenden Abwehrzellen bremsen. Bei ausgeprägter Immuntoleranz verdoppelt sich das Risiko für Lungenkrebs, das für Dickdarmkrebs steigt um etwa 60 Prozent. Das berichten Wissenschaftler im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg nun gemeinsam mit Kollegen der Berliner Epiontis GmbH (siehe Journal of The National Cancer Institute 2015, Band 107/11). Die Forscher belegen damit erstmals, dass individuelle Unterschiede in der Immuntoleranz das Entstehen bestimmter Krebsarten beeinflussen – und zwar bereits lange vor Ausbruch der Erkrankung.
Damit ein bösartiger Tumor entstehen kann, müssen die Krebszellen dem Angriff des Immunsystems entgehen. Zahlreiche Untersuchungen haben bereits belegt, dass Krebs sich besonders aggressiv ausbreitet, wenn in der Umgebung des Tumors ein ungünstiges Verhältnis von bremsenden und aktiven Immunzellen vorherrscht. „Wir wussten aber nicht, ob das die Folge eines aggressiven Tumors ist oder seine Ursache“, erklärt einer der beiden Studienleiter, Dr. Rudolf Kaaks, Epidemiologe im Deutschen Krebsforschungszentrum.
Rudolf Kaaks und seine Mitarbeiter hatten eine einzigartige Möglichkeit, diese Frage zu klären: Das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg ist eines der Zentren der prospektiven EPIC-Studie, die in ganz Europa an fast einer halben Million Menschen die Zusammenhänge von Ernährung und Krebs untersucht. Bei den EPIC-Erstuntersuchungen zwischen 1996 und 1998 wurde allen Studienteilnehmern Blut abgenommen und eingefroren. Aus den 25.000 Heidelberger EPIC-Teilnehmern wählten die Forscher nun die Blutproben von rund 1000 Personen, die im Laufe des Beobachtungzeitraums an Krebs (Lungenkrebs, Darmkrebs, Brust- und Prostatakrebs) erkrankt waren. Zur Kontrolle zogen sie eine Gruppe von 800 Teilnehmern heran, die keine bösartige Tumorerkrankung hatten.
Sebastian Dietmar Barth und seine Kollegen aus Rudolf Kaaks‘ Abteilung zählten die bremsenden regulatorischen T-Zellen in den Blutproben und setzten sie ins Verhältnis zur Gesamtzahl der T-Zellen, die auch die tumorabwehrenden Zellen umfasst. Dieses Verhältnis bezeichnen sie als „ImmunoCRIT“ (abgekürzt aus dem Englischen: cellular ratio of immune tolerance). Im Allgemeinen gilt: Je höher der ImmunoCRIT ausfällt, desto stärker ist das Abwehrsystem gedrosselt.
Beim Vergleich des Krebsrisikos von EPIC-Teilnehmern mit besonders hohem oder besonders niedrigem ImmunoCRIT stellte sich heraus: Ist der Wert sehr hoch, so verdoppelt sich das Lungenkrebsrisiko, das Risiko für Dickdarmkrebs steigt um etwa 60 Prozent. Frauen mit sehr hohem ImmunoCRIT haben sogar ein verdreifachtes Risiko, an Östrogenrezeptor-negativem Brustkrebs (d.h. Brustkrebs, dessen Zellen keine Rezeptorproteine für das weibliche Geschlechtshormon Östrogen tragen) zu erkranken – allerdings halten die Forscher hier die Fallzahl für möglicherweise zu niedrig für eine sichere Aussage. Keine Zusammenhänge zwischen ImmunoCRIT und Erkrankungsrisiko fanden die DKFZ-Epidemiologen für Prostatakrebs und Östrogenrezeptor-positiven Brustkrebs.
Werden die tumorabwehrenden T-Zellen durch bremsende, regulatorische T-Zellen in Schach gehalten, so sprechen die Forscher von „peripherer Immuntoleranz“. „Wir konnten mit dieser Untersuchung erstmals belegen, dass das ungünstige Verhältnis der Immunzellen bereits lange vor Ausbruch der Erkrankung bestand. Es ist also eher die Ursache als die Folge einer Krebserkrankung“, erklärt Rudolf Kaaks.
Die DKFZ-Forscher führten diese Studie in Kooperation mit Wissenschaftlern der Epiontis GmbH in Berlin durch. Das Unternehmen ist auf die epigenetischen Tests spezialisiert, mit denen das Verhältnis der verschiedenen T-Zell-Populationen ermittelt wurde.
Noch wissen die Wissenschaftler nicht, warum sich die Immuntoleranz auf bestimmte Krebsrisiken auswirkt, auf andere aber nicht. Eine mögliche Erklärung ist, dass Lungen- und Darmtumoren besonders stark von Immunzellen besiedelt werden, wie man aus früheren Forschungsarbeiten weiß. Die Heidelberger Epidemiologen wollen ihre Untersuchung nun auch auf andere Tumoren ausweiten.
Quelle: Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ)