Wenn Flimmerhärchen einen Defekt haben und ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen können, sammelt sich in den Atemwegen Flüssigkeit an, wobei auch Fremdkörper oder Krankheitserreger nicht mehr abtransportiert werden können. Chronische Atemwegsinfektionen und schwere Atembeschwerden wie bei der chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) sind die Folge. Einen zentralen molekularen Faktor, der die Bildung der Flimmerhärchen in den Atemwegen kontrolliert, hat jetzt ein internationales Forscherteam unter Leitung der Göttinger Wissenschaftlerin Dr. Muriel Lizé gefunden (siehe Genes & Development, Online-Vorabveröffentlichung am 2.6.16). Die Forscher konnten zeigen, dass das Protein p73 ein Netzwerk von Genen reguliert, das für die Bildung der Flimmerhärchen verantwortlich ist. Die neuen Erkenntnisse können dazu beitragen, die Ursachen für so genannte Ciliopathie-assoziierte Erkrankungen, denen ein Defekt der Flimmerhärchen zugrunde liegt, wie auch chronische Lungenerkrankungen beim Menschen besser zu verstehen.
Auf die Spur für die Ursache eines Flimmerhärchen-Defekts brachte das Göttinger Forscherteam eine Beobachtung: Dr. Muriel Lizé und ihren Kollegen fiel auf, dass bestimmte Mäuse typische Symptome einer primären ciliäre Dyskinesie (PCD) aufgrund nicht voll funktionsfähiger Flimmerhärchen zeigen. Bei diesen Tieren war dasjenige Gen mutiert, das den Bauplan für das Protein p73 liefert.
Das Protein p73 war bisher vor allem dafür bekannt, dass es Krebs unterdrückt und bestimmte Prozesse in der Entwicklung steuert. „Mäuse ohne funktionsfähiges p73 zeigen vielfältige Symptome, die sich nicht mit den bisher bekannten Funktionen von p73 erklären ließen“, erklärt Dr. Lizé, Senior-Autorin der Publikation. Tiere ohne das p73-Protein litten an Schnupfen, Entzündungen der Nasennebenhöhlen und an Lungenemphysemen. Unter dem Elektronenmikroskop stießen die Forscher dann auf folgende Veränderungen: „Das Flimmerepithel war vollkommen verkümmert, wir fanden fast keine Flimmerhärchen. Und die wenigen vorhandenen waren deutlich verkürzt“, berichtet Dr. Dietmar Riedel vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen.
Ist tatsächlich das Protein p73 für die defekten Flimmerhärchen verantwortlich? Um diese Frage zu klären, führten die Forscher ein ausgeklügeltes Experiment durch: Sie züchteten Epithelzellen aus den Atemwegen von Mäusen im Reagenzglas an einer Grenzfläche von Flüssigkeit und Luft. Dieser Reiz führt dazu, dass die Zellen auch im Reagenzglas Flimmerhärchen bilden. Und tatsächlich zeigte sich das gleiche Muster wie in den Atemwegen der Mäuse: Zellen ohne p73 brachten deutlich weniger und kürzere Flimmerhärchen hervor als Zellen mit dem Protein. Offenbar wirkte sich das Fehlen des Gens für das Protein p73 also direkt auf die Ausbildung der Flimmerhärchen aus und verursachte so die schweren Atemwegserkrankungen. „Das war wirklich überraschend, denn bisher hatte man das Protein p73 noch nie mit einer Funktion in den Atemwegen in Verbindung gebracht“, betont Dr. Lizé.
In weiteren Untersuchungen gingen die Göttinger Forscher der Frage nach, welche Rolle das Protein p73 bei der Entwicklung von Flimmerhärchen spielt. Bekannt war bisher: Das Protein p73 wirkt in der Zelle als so genannter Transkriptionsfaktor: Es steuert, welche Gene aktiv sind, indem es an bestimmte DNA-Sequenzen in diesen Genen bindet. Die Forscher vermuteten daher, dass das Protein p73 die Flimmerhärchen-Bildung kontrolliert, indem es bestimmte Gene beeinflusst.
Letztendlich konnten die Göttinger Wissenschaftler gemeinsam mit der Forschergruppe von Dr. Stefan Bonn vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) weit über 50 Gene ermitteln, die unter der Kontrolle von p73 stehen und für das Wachstum von Flimmerhärchen unmittelbar wichtig sind. Unter diesen Genen findet sich auch der Faktor FoxJ1, der zentrale Regulator der Flimmerhärchen-Bildung. Außerdem ist von acht der Gene bekannt, dass sie bei Ciliopathie-assoziierten Erkrankungen beim Menschen eine Rolle spielen. „Mit p73 haben wir einen Faktor identifiziert, der ein ganzes Netz von Genen kontrolliert, die für ein funktionsfähiges Flimmerepithel wichtig sind. Dies bietet einen neuen Ansatzpunkt, um Therapien für Krankheiten wie PCD und COPD zu entwickeln und zu verbessern“, hofft Dr. Lizé.
Quelle: Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität