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Flora der Lunge steuert Immunbereitschaft des Gehirns

Das Mikrobiom der Lunge steuert offenbar die Anfälligkeit des Gehirns, eine zerstörerische Autoimmunentzündung zu entwickeln. Das zeigen Forschende an Modellen für Multiple Sklerose.

Um uns mit lebenswichtigem Sauerstoff zu versorgen, ist die Lunge über eine große Austauschfläche mit der Umwelt verbunden. An dieser Grenze zwischen Lungengewebe und Außenluft ist eine spezielle mikrobielle Flora angesiedelt, das Lungenmikrobiom. Welche Funktion dieses Mikrobiom ausübt, ist bislang wenig erforscht. Eine enge Beziehung zwischen dem Lungenmikrobiom und dem Gehirn konnten jetzt Forschende des Instituts für Neuroimmunologie und Multiple-Sklerose-Forschung der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) unter Leitung von Prof. Dr. Alexander Flügel und Prof. Dr. Francesca Odoardi aufzeigen. Sie fanden heraus, dass das Lungenmikrobiom die Aktivität der Mikroglia-Zellen reguliert, Fresszellen des Gehirns, die auch als Immunzellen fungieren (siehe Nature, online seit 23.2.2022).

Diese neu-entdeckte Lunge-Hirn-Achse weist auf eine neue und unerwartete funktionelle Verbindung zwischen Lunge und Gehirn hin und ist für die Entwicklung von Krankheitsprozessen von Bedeutung: So bestimmt die Zusammensetzung des Lungenmikrobioms die Anfälligkeit, eine Autoimmunentzündung des Gehirns zu entwickeln, wie sie bei der Multiple Sklerose auftritt.

Wie die Forschenden berichten, wird die Lunge-Hirn-Achse vom lokalen Mikrobiom gesteuert, das offenbar ständig Signale an die Mikroglia sendet. „Die Mikroglia passt ihre immunologische Reaktionsfähigkeit entsprechend diesen mikrobiellen Signalen an und kann daher rechtzeitig auf drohende Gefahren reagieren“, erklärt Dr. Leon Hosang, Postdoktorand und Klaus Faber Fellow am Institut für Neuroimmunologie und Multiple-Sklerose-Forschung der UMG und Erstautor der Studie. „Das Lungenmikrobiom wirkt daher als eine Art Frühwarnsystem für das empfindliche Gehirngewebe“, erläutert Francesca Odoardi, Heisenberg Professorin am Institut für Neuroimmunologin und MS-Forschung der UMG und Ko-Senior-Autorin der Publikation. Das kann auch Folgen für die Gesundheit haben: Infektionen der Lunge, Antibiotikabehandlungen, Umweltverschmutzung und Klimaveränderungen können auf das Lungenmikrobiom einwirken und somit die Immunreaktionen innerhalb des Gehirns beeinflussen.

„Möglicherweise lässt sich diese neue Lunge-Hirn-Achse sogar therapeutisch einsetzen“, meint Prof. Dr. Alexander Flügel, Ko-Senior-Autor der Publikation. „So könnte eine gezielte Gabe von Probiotika oder bestimmten Antibiotika dazu genutzt werden, die Immunreaktionen des Gehirns gezielt zu beeinflussen und damit nicht nur Multiple Sklerose, sondern generell Erkrankungen unseres Zentralnervensystems, bei denen die Immunaktivität der Mikroglia eine Rolle spielt, zu behandeln“, so Flügel.

Grundsätzlich kann die Lunge bei der Entwicklung von Krankheitsprozessen im Gehirn eine wichtige Rolle spielen. So steigern Infektionen der Lunge und Rauchen das Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken. Die Multiple Sklerose gehört in die Gruppe der Autoimmunerkrankungen. Das Immunsystem, hier speziell sogenannte T-Zellen, greifen bei der Multiplen Sklerose fälschlicherweise das eigene Hirngewebe an und verursachen dort bleibende Schäden mit zum Teil gravierenden neurologischen Ausfällen.

Warum und wie ausgerechnet die Lunge bei der Steuerung von Autoimmunprozessen des Gehirns beteiligt ist, ist bislang völlig unklar. Denn die Hauptaufgabe der Lunge ist es, uns mit lebenswichtigem Sauerstoff zu versorgen. Dafür bildet das Lungengewebe eine sehr ausgedehnte Austauschfläche in der Größe von über 100 Quadratmetern mit der eingeatmeten Umgebungsluft. Diese enorm große Kontaktfläche erfordert auch einen spezialisierten Immunschutz gegen potenziell gefährliche Eindringlinge, z.B. Viren oder Bakterien. Organübergreifende Immunreaktionen finden aber nach gängiger Auffassung vor allem in spezialisierten Immunorganen, wie z.B. den Lymphknoten oder der Milz, statt. Hier sind alle Zellen und löslichen Immunfaktoren vorhanden, um Immunantworten gegen Eindringlinge, aber auch gegen Eigengewebe zu starten und zu steuern.

Wie nimmt die Lunge Einfluss auf eine Autoimmunreaktion des Gehirns? Auf diese Fragen fanden die Göttinger Forschenden nun überraschende Antworten. Sie konnten feststellen, dass die bakterielle Besiedlung der Lunge an der Kontaktfläche zwischen Lungengewebe und der Atemluft, das Lungenmikrobiom, hierbei eine besondere Rolle spielt. Der Mensch wird an sämtlichen Kontaktflächen zur Außenwelt von Bakterien besiedelt. Während das Mikrobiom des Darms oder der Haut in Aufbau und Funktion bereits besser verstanden ist, ist das Lungenmikrobiom vergleichsweise wenig erforscht. Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass die Lunge steril ist, also überhaupt keine bakterielle Besiedelung aufweist. Tatsächlich ist die Menge an Mikroben in der Lunge, z.B. im Vergleich zum Darm, verschwindend klein (um einen Faktor von 108 niedriger). Umso überraschender war es für die Göttinger Forschenden, dass bereits eine leichte Manipulation der mikrobiellen Flora durch eine lokale Gabe eines niedrig dosierten Antibiotikums ausreichte, die Anfälligkeit des Gehirns für die Entwicklung einer Autoimmunerkrankung stark zu verändern.

Wie bewerkstelligt das Lungenmikrobiom die Steuerung einer Autoimmunerkrankung in dem räumlich weit entfernten Gehirn? Die Forschenden untersuchten schrittweise, an welchem Ort dieser Einfluss wirksam ist, welche Zellen dort betroffen sind und welche bakteriellen Signale bei der Regulation der Zellen beteiligt sind. Sie fanden heraus, dass sich der Angriffspunkt nicht in der Lunge oder in den Immunorganen des Körpers befindet, sondern direkt im Gehirngewebe. Dort stießen sie bei Antibiotika-vermittelter Manipulation des Lungenmikrobioms auf deutlich messbare und sogar auch auf mikroskopisch sichtbare Veränderungen der Mikroglia-Zellen, den sog. Immunzellen des Gehirns.

Mikroglia sind kleine feinverästelte Zellen, die mit ihren zarten Zellfortsätzen fortwährend ihre Umgebung abtasten, um Schädigungen oder Gefährdungen durch Infektionserreger wahrzunehmen und daraufhin, ähnlich wie die Immunzellen in anderen Regionen des Körpers, Alarm zu schlagen und Immunhilfe herbeizurufen. Nach der Antibiotikagabe in die Lunge waren die Verästelungen der Mikroglia verkürzt und verdickt. Zudem reagierte die Mikroglia auch weniger stark auf entzündliche Signale, was eine verminderte Rekrutierung von Immunzellen in das entzündete Gehirngewebe zur Folge hatte. Dadurch ließ sich die verminderte Anfälligkeit gegenüber einer Autoimmunentzündung sehr schlüssig erklären.

Schließlich fahndeten die Forschenden noch nach den bakteriellen Signalen, die eine derartige Mikroglialähmung auslösen konnten. Entscheidende Hinweise lieferten Analysen der Lungenbakterien, die mit Hilfe von Mitarbeitenden des Instituts für Mikrobiologie der biologischen Fakultät der Universität Göttingen durchgeführt wurden. Die Analysen ergaben, dass sich bestimmte Bakterien, die einen besonderen Zellwandbestandteil (ein Lipopolysaccharid) produzieren, durch die Antibiotikagabe verstärkt im Lungengewebe ansammeln. Eine erhöhte Menge des Lipopolysaccharids löste in der Tat die beobachtete Mikroglialähmung und Autoimmunresistenz aus. Eine Senkung des Lipopolysaccharids in der Lunge bewirkte dagegen genau das Gegenteil: Die Autoimmunerkrankung verstärkte sich.

Quelle: Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität